Berti Schulte-Wintrop geb. Bunsmann wird 1891 in Münster geboren. Sie führt Tagebuch und hat die Erinnerungen an ihre Zeit in Münster im Tagebuch Nr. 1 festgehalten. Der vollständige Inhalt kann hier aufgerufen werden.
Berti schreibt über die große Liebe ihres Lebens, von den Dinge des Alltags und über die Kriegsjahre des 1. Weltkrieges und dem Kriegsende in Münster. Ergreifend ist ihre hier wiedergegebene Schilderung über das Sterben ihres geliebten Vaters, der als angesehener Arzt in Münster seinen Beruf ausübte.
Frau Dr. Jutta Schlia-Zimmermann, Enkelin von Berti, hat mit großem Zeitaufwand den umfangreichen Text transkribiert und das Bildmaterial zur Verfügung gestellt. Ich danke ihr sehr herzlich.
Henning Stoffers
Wenn ich den gedruckten Totenzettel sehe, dann kann ich es eher glauben, daß unser lieber guter Vater gestorben ist. Vor mir steht auf dem Tisch sein Bild, das schöne ernste Gesicht, das mir so unendlich viel zu sagen hat.
Ich will heute über Vaters letzte Tage berichten; doch muß ich mich kurz fassen, damit der Schmerz mich nicht zu sehr erfasst. Aufregungen, deren ich sowieso letzthin genug gehabt habe, können dem Kinde schaden.
Es war Ende April, gerade 1 Woche vor Vaters Todestag, als morgens hier eine Karte anlangte, die von einer Grippeerkrankung Vaters sprach. Sie war möglichst harmlos abgefasst, und doch hatte ich gleich das Gefühl nahenden Unheils und mußte weinen. Nach einer Viertelstunde kam das Telegramm: Vater an Lungenentzündung erkrankt. Kommen erwünscht. – Der Zug nach Kassel war längst fort. Sonntags fuhren keine Züge. Wir hätten erst am folgenden Montag fahren können, wenn Onkel Edmund und Tante Maria uns nicht im Auto bis Marburg gebracht hätten, wo wir den Zug noch erreichten.
Die Fahrt war schrecklich. Zu unserer größten Freude aber trafen wir Vater bei leichter Besserung an. Der vorhergehende Tag (Freitag) war schlecht gewesen. Auf seinen eigenen Wunsch hatte Vater aus Pater Felix Hand die Hl. Wegzehrung erhalten und seine Kommunion für Hermann Dieckmanns Rückkehr zum Glauben aufgeopfert. Wir durften Vater am Samstag noch nicht sehen.
Sonntagmorgen rief Mutter uns, nachdem sie ihn kurz vorbereitet hatte, an sein Lager. Ein schnelles Erschrecken und Erbleichen flog trotzdem über sein schmal gewordenes liebes Gesicht, als er mich sah. Da habe ich ihm zum letzten Mal im Leben einen Kuß gegeben. Vater lag seit dem Dienstag zu Bett. Am Montag hat er noch mit hohem Fieber einen Besuch beim Müller Deipenbrok in Roxel gemacht. Wie August, der Chauffeur, uns nachträglich erzählte, hat er das Auto mitten auf der Landstraße einmal halten lassen. Er konnte es vor Fieber und Herzklopfen nicht mehr darin aushalten und ist draußen im Wind auf und ab gegangen. „sagen Sie zu Hause nichts davon“ hat er gesagt. Und August hat es natürlich aus Gehorsam verschwiegen. Dr. Kampschulte, ein junger Arzt, der im Kriege Vaters Assistent im Lazarett war und zufällig in Münster weilte, war dann der Vertreter. Behandelt worden ist Vater von Dr. Birkenbach, einem tüchtigen Spezialisten. Aber auch seine Freunde kamen anfangs häufig. Später als es schlimmer wurde begnügte man sich mit mündlichen und telefonischen Anfragen, die wir Mühe hatten, alle zu beantworten.
Am Sonntag durfte ich noch öfter bei Vater sein. Ich erzählte ihm von Fritzlar und von dem Putsch im Ruhrrevier, der ihn sehr interessierte. „Was macht die Politik?“ fragte er anfangs noch häufig! Am Montag kam Pia mit der kleinen 3 Wochen alten Lieselotte. Pia hat Vater nicht mehr sehen dürfen. Dem kranken Herzen, das durch die maßlosen Anstrengungen der letzten Jahre abgesetzt war, durfte man eine solche Anstrengung jetzt nicht mehr zumuten. Pia hat mir sehr leid getan; aber sie hat es mit großer Geduld getragen. Wir hatten immer noch Hoffnung. Dienstag fuhr Carl wieder nach Fritzlar, weil die Arbeit dringend rief. Er kam aber wegen der Unruhen nur bis Hamm. Mittwoch morgen fuhr er wieder fort und erreichte glücklich Fritzlar.
Ich durfte nun Vater abwechselnd alle 4 Stunden mit Mutter pflegen. Die Schwester war zwar auch immer da, aber er hatte zu uns gesagt: „Einer von Euch muß immer bei mir bleiben“. So saßen wir denn immer bei ihm; oft auch zusammen. Er hielt unsere Hände, wir wischten ihm den Schweiß ab, richteten ihn auf, gaben ihm zu trinken und versuchten alles, ihm das Leiden zu erleichtern. Das Atmen wurde ihm furchtbar schwer.
Am schlimmsten waren immer die Mittagsstunden. Dann mußten die Fenster weit geöffnet werden und wir mußten seine erhobenen Arme stützen, damit er Luft bekommen könnte. Trotz seiner Schmerzen fragte er immer nach, wie es uns ginge, drückte uns die Hände, legte den Arm um uns und war um alles besorgt.
Am Dienstag Nachmittag wünschte er mich allein zu sprechen. Ich mußte den Schlüssel zu seinem Schreibtisch holen, und einen Brief an mich sowie einige Fotografien heraus nehmen. Der Brief war im Nov. vorigen Jahres geschrieben aber nicht abgeschickt worden, weil Vater mittlerweile, wie auf dem Umschlag stand, von meinem Zustand erfahren hatte. Er ist verbrannt worden. Als ich es Vater mitteilte war er beruhigt. Er sagte mir unter anderem: seitdem Pia als Erste und besonders Du als Zweite weggegangen sind ist eine große Lücke entstanden. „Da habe ich durch verdoppelte Arbeit mich betäuben wollen -, Mutter ist doch viel besser gewesen als ich gedacht habe“
„Ist Carl immer noch so gut zu Dir?“ Darauf antwortete ich: „Ja, Vater, er könnte gar nicht besser sein“, worauf er sagte: „ Das ist ein großes Glück für Dich“. Oft empfahl er Mutter und mir die Jüngeren an, indem er sprach: „Sorgt für die Kleinen!“ oder „Wo ist Franz? Ist er auch immer unter Aufsicht? Daß er nur nicht in schlechte Umgebung kommt!“ Wir haben ihn immer beruhigt und gesagt, daß wir für alles sorgen wollten.
Oft war er noch ganz witzig und brachte uns und die Schwester zum Lachen. Wenn er seine Knie hochgezogen hatte, so meinte er, in den Falten der darüber liegenden Steppdecke ein grinsendes Judengesicht zu sehen. Als überzeugter Antisemit packte er in heiligem Zorn die Fratze mit den noch immer kräftigen Händen. „Du hast immer die richtige „Kältemischung“ meinte er, meine Hand haltend einmal. Am Gründonnerstag Mittag betete er laut und deutlich:
„Liebster süßester Heiland, wenn Du weißt, daß mein Leben unnütz ist und daß ich nicht mehr auf Erden wandeln soll, so nimm mich doch bald zu Dir.“
Ein ander Mal, als er auch große Schmerzen hatte: “Gib mir etwas gegen die Schmerzen, damit es eher zu Ende geht; aber das darf ich als Katholik ja gar nicht sagen.“
Seinem Bett gegenüber hing das große schöne Kruzifix. Es war sein Trost und Halt. Noch sehe ich seine Augen mit rührender Hingebung und dann wieder wie beschwörend daran hängen. Einmal zeigte er darauf mit den Worten: „Das müsst ihr immer in Ehren halten.“
Je näher der Karfreitag kam, desto öfter fragte er danach. Ich glaube er dachte, es wäre sein Todestag. Beinah ist es ja auch so gewesen. Jedenfalls ist es der Tag seines Todes leider gewesen. Ich habe ihm den Karfreitag verschwiegen und gesagt, es sei schon Karsamstag, was er auch glaubte. Auch die Mittagsstunden gegen 3 Uhr, als unser Herr am Kreuze starb, wollte er immer genau wissen. Manchmal, besonders nach beruhigenden Einspritzungen träumte er und sprach ruhig vor sich hin. So sagte er, wohl in Erinnerung an die Fritzlarer Reise im vorigen August: „das schöne alte Fritzlar! Hat so viele gute und schlechte Tage gesehen“. Mitten in der Nacht setzte er sich einmal aufrecht und sprach im Befehlston: „Nie eine Krankheit verschleppen! Immer gleich zum Arzt gehen“. Dann grüßte er einmal militärisch und winkte freundlich den Gegengruß ab. Das schreckliche harte Röcheln, das immer mehr zunahm, störte ihn sehr und machte ihn aufgeregt. Als es ihm zu arg wurde rief er, auf seinen Hals zeigend, im militärischen Ton: „Jetzt Ruhe!“ – Aber es hörte und hörte nicht auf. „Was für ein Wort muß ich nur immer sagen?“ fragte er mich dann. Das Wort hieß wohl „Leiden, Leiden, Leiden“. – „Jetzt kann ich sehen, was dieser arme Umbach gelitten hat,“ meinte er. Umbach war ein Patient von Vater, der auch Grippe hatte. Er ist aber wieder durch gekommen.
So kam der Karfreitag heran. Geweint habe ich nicht mehr in den letzten Tagen. Es war mir nach einem Blick auf das Kreuz sogar oft möglich, Vater an zu lachen. Er fühlte den Tod kommen. Am Morgen mussten wir ihn schön machen und kämmen. Er half selbst dabei, trocknete sich ab, kämmte seinen Bart und ordnete alles an. Dann mußten wir ihm ein reines Hemd anziehen. Vater war nicht nur im Leben sondern auch noch in den letzten Stunden von peinlichster Sauberkeit und Ordnung. Mit Pater Felix, den ich geholt hatte, hat er dann noch morgens gebetet. Die Herzschwäche wurde immer größer. Man gab ihm Linderungsmittel, die ihm die schweren Nachmittagsstunden erträglich machten. Beim Einnehmen sagte er lächelnd zur Schwester, indem er auf mich zeigte: „Das gönnt sie mir nicht. Das Kind hat immer so gern Medizin genommen.“ Dann bestimmte er noch allerlei kleinere Angelegenheiten für den Fall seines Todes, z. Bsp. sollte Dr. Beckmann sein letztes Benzol haben u. ähnliches. Als er sich wohler fühlte, machte er auch wieder Zukunftspläne und Scherze. Er sah links und rechts vom Kreuz vier Fratzen, die sich bewegten, und als ich auf sein Befragen sagte, daß ich sie auch sähe, meinte er lächelnd zu den anderen: „Komisch daß Berti sie auch sieht“, und zu mir darauf: Weißt du Berti, es ist aber doch nur Täuschung. Es kommt von der Tapete.“
Dann sah er ein Stachelschwein. Es ängstigte ihn, und ich riet ihm die Augen zu schließen. Er tat es, aber es war noch da, als er sie wieder öffnete. Da bin ich hingegangen und habe gesagt, ich wollte es totmachen. Ich brauchte nur einige Male die Gardine zu bewegen, da war er zufrieden.
Sein Blick war fast immer auf das Kreuz gerichtet: „Der Heiland blutet immer mehr, seht ihr das nicht?“ sprach er Freitagnachmittag zur Schwester und mir.
Er nahm noch allerlei zu sich und führte selbst den Löffel zu Munde. Unseretwegen hat er sich immer noch zur Nahrungsaufnahme gezwungen, wenn es ihm auch fast unmöglich war. Am Spätnachmittag kam kalter Schweiß, die Hände wurden ganz kalt und naß. „Das ist der Todesschweiß. Ich kenne das“, sagte er mir. Mutter und ich wischten ihm mit einem weichen Tuch immer wieder die Tropfen von Gesicht und Händen. Er fühlte die Kälte kommen und bat, den Ofen anzuzünden. Ich sehe noch Mutter in Jammer und Elend vor dem alten runden Ofen knien und mit Torf ein helles Feuer anzünden. Der Tod, der schon so nahe war, ging noch einmal vorüber. Langsam wurden Vaters Hände wieder wärmer und es war, als wenn seine alte Kraft noch einmal sich zeigen wollte. Er wollte nicht mehr im Bett bleiben. Wir mußten seinen Anzug holen und ihn anziehen. Er setzte sich auf den Bettrand gestützt auf uns, ganz erschöpft von der Anstrengung. Als er wieder ins Bett gehoben wurde, nach dem wir ihm den Anzug wieder ausgezogen hatten, mußte ich an die Grablegung Christi denken. Zweimal mußten wir ihn noch aus dem Bett heraushelfen und sogar einen Sessel holen, auf den wir ihn setzten. Das letzte Mal war es schon tief in der Nacht. Ich hatte Mutter und die anderen, die sich etwas gelegt hatten, herangeholt. Auch die beiden Dienstboten waren jetzt im Zimmer. Ob Vater Pia noch erkannt hat, weiß ich nicht. Er sah oft aufmerksam nach der Richtung, wo sie stand. August hielt seine Füße. Wir alle suchten ihm zu helfen, ihn zu stützen und zu wärmen. Dann wurde er schwächer, und die Augen begannen zu brechen. Mutter sagte: „Jetzt geht es dir immer besser, Vater!“ – „Immer besser“, wiederholte Vater. Das letzte, was er deutlich sprach, fast rief, war „Franz!“ Da kam Franz an seine Seite und hielt seine Rechte lange fest und links war Mutter. Die Schwester begann mit den Sterbegebeten, und die Sterbekerze wurde angezündet. Vater hielt den Rosenkranz umklammert, den ihm Pater Omnipotenz nach der schweren Krankheit geschenkt hatte und an dem er im letzten Jahr jeden Abend ein Gesetz gebetet hatte.
Das Röcheln wurde stärker. Dann kam es nur noch stoßweise. Schließlich war der letzte Atemzug getan.
Ich muß ganz kurz berichten. Die Erinnerung regt mich furchtbar auf.
Die Schwestern und die Männer machten Vater dann zurecht. Als wir ihn dann wiedersahen, lag er schön und friedlich wie ein toter Hl. Franziskus in seinem Bett. Als ich im Morgengrauen allein bei ihm war, habe ich immer gerufen: „Väterchen, Väterchen“ und gedacht, er würde wieder wach. Es blieb so unheimlich still. Seine Hände blieben lange warm. Ich habe sie noch oft in den 3 Tg. mit den meinigen bedeckt und einmal auch noch mit großer Ehrfurcht das liebe Gesicht geküßt. Aufgebahrt wurde Vater im Wartezimmer, aber ohne viele schwarze Tücher und Verdunklungen. Pia hatte ihn wunderschön geschmückt mit weißen Blüten von den Birnbäumen, die er selbst gepflanzt und unter denen er so manche Stunde ruhend, lesend und in froher Runde zugebracht hatte. Zu seinen Häupten war ein in Silber getriebenes altes Muttergottesschild der 24er Bruderschaft, der Vater und Mutter angehörten, aufgestellt. Im Schein der dicken gelben Wachskerzen sah es inmitten des Grüns und der Blumen wunderschön aus. Ich glaube, Vater hätte Spaß gehabt an dem alten schönen Schild.
Berti Bunsmann ist geprägt von einem konservativ-katholischen Elternhaus mit religiös motiviertem Antisemitismus. Dies wird in einigen Passagen des ungekürzten Gesamtdokumentes erkennbar.
Es ist naheliegend, dass Dr. Heinrich Bunsmann an der damals grassierenden Spanischen Grippe erkrankt und verstorben ist.
Zum Ende des 1. Weltkrieges wird die Welt von der Spanischen Grippe heimgesucht. Die Pandemie erreicht Münster. Hierüber schreibt Münsters Stadtarchivar Dr. Eduard Schulte in seiner Chronik:
11. Oktober 1918
Die 'Spanische Krankheit' trat, nachdem sie im Sommer bereits geherrscht hatte, im Herbst so heftig und allgemein auf, dass der größte Teil der Bürgerschaft mehr oder minder stark grippekrank ist. Die Hospitäler sind überfüllt. Täglich müssen 8-10 Kranke am Clemenshospital abgewiesen werden. Zahlreich sind Lungenentzündungen, häufig der Tod die Folge der Grippe.
14. Oktober 1918
Im ganzen Reich tritt die Grippe auf, vielfach mit Rippenfell- und Lungenentzündung, häufig mit tödlichem Ausgang. Die Krankenwagen fahren hier ununterbrochen. Die Hospitäler sind überfüllt, die Ärzte und Pfleger überbeschäftigt. Jedes Haus, jede Familie hat Grippekranke. Manche Bauernhöfe, Häuser, Büros, Geschäfte sind gänzlich geschlossen, weil alle Beteiligten krank sind. Die Postbestellung mußte auf zwei Botengänge täglich beschränkt werden. Man spricht von einer 'Lungenpest' und erzählt sich, die Toten würden schwarz.
Quellen
Text und Abbildungen: Dr. Jutta Schlia-Zimmermann
Redaktion: Henning Stoffers