Vorwort Dr. Sybille Demmer

Mein Bruder hat inzwischen Aufzeichnungen einer Schwester unseres Großvaters Josef Niemer durchgesehen: Lucie Kleffner, geb. Niemer, geb. 1.6.1890, hat Weihnachten 1947 Aufzeichnungen über die Familie für ihre Tochter Ursula Glatzner-Kleffner gemacht. Von dieser hat mein Bruder die Aufzeichnungen vor einiger Zeit erhalten. Lucie Kleffner geht den Ursprüngen und Zweigen der Familie Niemer nach.


Über die Autorin Lucie Kleffner

Zwischen den Brüdern Carl Eduard Niemer (*1876) und Josef Niemer (*1892) gab es fünf Schwestern: Clara ("Cläre", *1880), Luise (*1883), Maria (*1886), Gerta (*1888) und Lucie (*1890).

 

Lucie Niemer wurde am 1.6.1890 geboren. Am 3.1.1924 heiratete sie den späteren Provinzial-Medizinal-Rat Dr. Heinrich Kleffner und starb am 22.01.1977 in Winnenden (Baden-Württemberg).

 

Sie stellte umfangreiche Aufzeichnungen über die Familie für ihre Tochter Ursel zusammen (datiert Weihnachten 1947). In diesen Aufzeichnungen findet sich die Passage über das frühere Münster.


Lucie Kleffner: Einige persönliche Erinnerungen an Münster aus meiner Jugend

Lucie Kleffner gemalt von Mares Schultz - Familienbesitz
Lucie Kleffner gemalt von Mares Schultz - Familienbesitz

Die Schönheit Münsters zu schildern, überlasse ich Berufeneren. „Westfalens Edelstein“ ist schon oft begeistert gepriesen.

 

Für mich war das altehrwürdige, türmereiche Münster, eingebettet in die weite, gesegnete Ebene des Münsterlandes, umgeben vom grünem Kranz seiner duftenden Linden, der Mittelpunkt meines jungen Lebens und der Inbegriff alles Schönen. Vieles erlebte man in den krummen Straßen und winkligen Gassen dieser Stadt, unter ihren altertümlichen Giebeln und den Bogengängen des Prinzipalmarktes oder unter den dämmernden Linden des Domplatzes.

 

An Markttagen rasselten die Leiterwagen der Bauern über die Salz- und Aegidiistraße zum Prinzipalmarkt. An den Pfeilern der Bogen standen dann die behäbigen oder verkniffenen westfälischen Bauersfrauen in einfachen schwarzen Hütchen, um ihre Ware: goldgelbe Butter, frische Eier, Geflügel, Obst u. Gemüse, feilzubieten.

Münsters Hausfrauen schlenderten vorbei, musterten kritisch das Gebotene, und, zu meinem Entsetzen, wurde die Güte der Butter oft mit der Haarnadel oder dem Groschen festgestellt. Ein anderes Bild bot der Prinzipalmarkt an Sonntagen. An jedem Sonn- und Feiertag vollzog sich dort der sogenannte „Bummel.“ Buntbekappte Studenten, schneidige Offiziere und viele hübsche junge Mädel gingen fröhlich schäkernd und plaudernd, im Kreis umher, dabei die neuesten Frühjahrskleider spazieren führend.

 

An den Sendtagen wurde am alten Rathaus das große Richtschwert herausgestreckt. Die Hand, die es trug, wies auf den Domplatz hin.

Dort herrschte im Schatten des großen, ehrwürdigen (scil.: Domes) ein reges Leben und Treiben. Die Sendleute hatten in vielen Buden Spielsachen, Pfefferkuchen, Schokoladen- und Zuckerstangen, „türkischen Honig“ und Schmalzgebackenes vor unseren strahlenden Kinderaugen ausgebreitet. Besonders malerisch und geheimnisvoll war es, wenn in der Dämmerung die flackernden Budenlampen aus dem Laub der Linden aufleuchteten. Wir folgten dem Schwarm der Menschen durch die Pferdegasse. Schon hörte man die Orgeln, das Geschrei und Jauchzen der Menge bei den vielen lustigen, bunten Karussells und den Schaubuden, die dort aufgebaut waren.

Interessant war für uns Kinder auch Kaisers Geburtstag. Festlich flatterten dann die Fahnen im Wind, und in feierlichen Zylinderhüten begaben sich die Herren, darunter mein Vater, zum Geburtstagsessen auf das Rathaus. Wir eilten nach der Schulfeier zum Neuplatz und waren begeisterte Zuschauer der Kaiserparade. Bei den schmetterten Weisen der Militärkapellen zogen unsere lieben heimischen Regimenter: 13. Infanterie, 22. Artillerie und die rotweißen Kürassiere an uns vorüber.

Karneval 1911
Karneval 1911

Ganz toll ging es in den 3 Fastnachtstagen in Münster zu. Da wogte und tollte das bunte Narrenvolk auf dem Prinzipalmarkt und auf der Salzstraße. Vom Fenster aus nahmen wir teil am lustigen Treiben, warfen Luftschlangen und Konfetti unter die jauchzende Menge und erwarteten mit heißen Backen den Rosenmontagszug mit dem Prinzen Karneval, dem an der Weinhandlung Niemer der traditionelle Korb mit Sekt gespendet wurde.

 

Besonders feierlich und eindrucksvoll waren auch die religiösen Feiertage in Münster.

Prozession 1926
Prozession 1926

Sämtliche Glocken der vielen Kirchen und Kapellen der Stadt läuteten solch einen Festtag ein. Weihrauch duftete in den Straßen, und aus den offenen Kirchentüren erschollen das feierliche „Großer Gott, wir loben dich!“ bis auf die Straße hinaus. – In den letzten Tagen der Karwoche strebten Hunderte von Menschen zum Hohen Dom in die „Düsteren Metten“. Am Karfreitag selbst gingen katholische Männer entblößten Hauptes mit ihren Familien, den Rosenkranz betend, durch die Straßen der Altstadt von Kirche zu Kirche, indem sie in jeder eine Leidensstation betrachteten und am Hl. Grabe opferten. – Grüne Maibäume, geschmückte Altäre und flatternde Fahnen belebten die Straßen der Stadt am Tage der „Großen Prozession“. Mit welcher Freude wurde sie von uns Kindern erwartet! Am Abend vorher lagen schon die weißgestärkten Kleidchen, die Schärpen, die Kränzchen, bei den Jungen die „Torste“ (ein mit bunten Blumen festumwundener Stab!) neben dem Rosenkranz und dem Tütchen mit Pfefferminzbonbons zur Stärkung auf dem langen Weg, ausgebreitet bereit. Nach dem feierlichen Rundgang und dem „Te Deum“ im Hohen Dom gab es zu Hause im Kreis der kleinen Freundinnen Kakao und Zwieback.

Traditionell in der Niemerschen Familie war auch der Gang mit dem Vater um die Promenade der Stadt vor der Weihnachtsbescherung, während die Mutter zu Hause diese vorbereitete. Weihnachtsglockengeläute fiel reich in den Schnee, und, die Händchen tief im warmen Muff, gingen wir eine Stunde lang durch die verschneite Promenade und beobachteten voll Spannung die kleinen Weihnachtslichter, die hie und da schon hinter den Fenstern der Häuser aufblitzten, voller Erwartung der eigenen Herrlichkeiten zu Hause.

 

Nach solchen Tagen sank man müde und beglückt abends in sein Bettchen, und in die Kinderträume hinein erschollen jede volle Stunde der langgezogene Ton des Hornes des Nachtwächters vom Lambertiturm, jener Ton, der mir noch heute deutlich im Ohre klingt.


Quellen

Bereitstellung des Textes: Dr. Sybille Demmer

Redaktion: Henning Stoffers

Fotos und Abbildungen: Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank - Stadtarchiv Münster)