Liebe Leserin, lieber Leser

die folgende Ausarbeitung wurde angeregt durch Eckhard Müller, Leiter der GeschichtsWerkstatt im Alten Backhaus e.V., Begegnungs- und Bildungsstätte im Kreuzviertel Münster, und abgeschlossen im Oktober 2021.

 

Der vollständige Text mit allen Anmerkungen kann gerne beim Autor angefordert werden.


Dietrich Scholle

Die Geschichte hinter zwei Namen

August Dieckmann und Liselotte Herx

Auf dem Plakat zur Maifeier der SPD Münster-Neutor 1948 wird als Festredner neben Frau Dr. L. Herx, Vorsitzende der Frauengruppe, A. Dieckmann, Vorsitzender der Stadtgruppe genannt.

August Dieckmann, geboren am 15.7.1897, Einzelkind, Elektrotechniker, verheiratet, ein Sohn, eine Tochter, wohnte in der Innenstadt, zunächst im Wegesende 10, dann am Hindenburgplatz 40/42, wegen der Zerstörung der Wohnung durch Bombenschaden im März 1945, auch am Schlossplatz 5 (bis mindestens 1950), danach dann in der Timmerscheidtstraße 16, im Schützenhofviertel.

Politische Tätigkeit in der Weimarer Zeit

August Dieckmann war nach eigener Auskunft 1919 Mitbegründer der USPD, Bezirk Westfalen, und der Ortsgruppe des Deutschen Metallarbeiterverbandes und Mitglied der Ortsleitung der „Elektro-Gruppe“. Er nennt für die Zeit der Weimarer Republik weitere politische, gewerkschaftliche und soziale Engagements und Funktionen. 1924 war er „Stadtverordneter im Stadtparlament Münster“, für welche Partei, sagt er an dieser Stelle nicht. An anderer Stelle spricht er von „marxistischen Organisationen“ als deren Vertreter er gewählt worden sei, tatsächlich war er Kandidat und Ratsherr der KPD, wie er es selbst in einem parteiinternen Schreiben vom 23.7.1946 anmerkt und wie die Übersicht von Korfmacher über die Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung von 1919 bis 1933 ausweist. Danach hat er sein Mandat allerdings bereits im Dezember 1925 wieder niedergelegt.

Verfolgung und Haft in der NS-Zeit

Folgen seiner politischen Tätigkeit und offensichtlichen Gegnerschaft gegenüber dem Nationalsozialismus waren Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Inhaftierungen und Überwachung während der gesamten zwölfjährigen Naziherrschaft.


August Dieckmann war in Untersuchungshaft in Münster vom 13.10.1934 bis zum 24.11.1934 sowie fast 16 Monate in sogenannter „Schutzhaft“ im KZ Sachenhausen vom 13.9.1939 bis zur probeweisen Entlassung am 24.12.1940. In der fast fünfjährigen Zwischenzeit war er zunächst arbeitslos und ohne öffentlich Unterstützung wegen des Einkommens seiner Frau, die von 1924 bis 1942 als Reinigungskraft bei der Universitätsverwaltung beschäftigt war. Laut Dieckmann war er in dieser Zeit aus politischen Gründen von der Arbeitsvermittlung ausgeschlossen. In späteren Entschädigungsverfahren wurde dies zumindest teilweise anerkannt. In einem Bescheid des Regierungspräsidenten vom 15.11.1958 wird Dieckmanns Arbeitslosigkeit Anfang der 30er Jahre, also vor seiner ersten Inhaftierung, nicht als Folge seiner NS-Gegnerschaft gesehen, sondern als Folge der „in Deutschland herrschenden Wirtschaftskrise“. Für die Zeit danach lautet die Einschätzung: „Da jedoch die allgemeine Wirtschaftskrise und die damit zusammenhängende Arbeitslosigkeit etwa ab Mitte des Jahres 1936 als überwunden anzusehen war, der Antragsteller jedoch erst am 23.9.1938 wieder in den Arbeitsprozeß eingegliedert worden ist, kann angenommen werden, daß er spätestens am 1.7.1936 wieder einen Arbeitsplatz gefunden hätte, wenn er nicht verfolgt worden wäre. Die Schadenszeit umfaßt somit den Zeitraum vom 1.7.1936 bis zum 22.9.1938 und vom 13.9.1939 bis 9.1.1941.“.


Unter anderem fand Dieckmann zwischenzeitlich Beschäftigung in einem Betrieb der AEG. Nach seiner Entlassung aus der KZ-Haft unterlag er einer strengen Meldepflicht der Gestapo und war der Firma Carl Jansen als Elektromonteur zugewiesen, im Wesentlichen zur Erledigung staatlich beauftragter Arbeiten. Der bereits zitierte Bescheid des Regierungspräsidenten bezeichnet diesen Vorgang ohne dessen politische Implikationen wie folgt: Dieckmann „wurde nach Entlassung aus der Haft am 10.1.1941 wieder in seinem Beruf in Arbeit vermittelt.“

Seine politische Haltung und sein Status als Gegner des NS-Regimes, vor allem die KZ-Haft und ihre vielfältigen Folgen waren bestimmend für sein weiteres Leben. Hinzu kamen die zunehmenden gesundheitlichen Probleme seiner Frau, die von 1942 an wohl nicht mehr arbeits-fähig war, wozu vermutlich neben den Belastungen des Lebens mit einem politisch Verfolgten auch der Schmerz über den Tod des Sohnes an der Front in Russland beigetragen hat.

Aufbruch und Neuanfang nach Befreiung und Kriegsende

Nach Befreiung und Kriegsende betätigte sich Dieckmann, weiterhin als Mitglied der Münsteraner KPD, nach eigenen Angaben in vielfältiger Weise, u.a. als Vorsitzender des Wiedergutmachungskomitees, als Mitglied im Stab der dem von der britischen Militärregierung eingesetzten Landespolizeipräsidenten Friedrich Grützmann unterstellten neu formierten Landes-polizei mit Sitz in der Villa ten Hompel, zuvor Sitz der berüchtigten NS-Ordnungspolizei, sowie als Mitglied in städtischen Ausschüssen, z.B. dem Sonderhilfsausschuss.

Philipp Erdmann, Mitarbeiter im Stadtarchiv Münster und u.a. Verfasser zweier einschlägiger Publikationen zur „Entnazifizierung in Münster“ und zum kommunalen „Krisenhandeln im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit“ schreibt mir dazu erläuternd: „Wenige Wochen nach Kriegsende bildete sich in Münster wie in anderen Städten eine Interessenvertretung für die befreiten NS-Verfolgten, die sich vor allem an ‚Konzentrationäre‘ und unter diesen an politisch oder religiös Verfolgte richtete. Die Initiative ging in Münster von politischen Verfolgten um das KPD-Mitglied August Dieckmann aus, deren ‚Vereinigung politischer Gefangener‘ im Juni 1945 vom britischen Stadtkommandanten und vom Bürgermeister genehmigt und ab August dann ‚Wiedergutmachungs-Komité‘ genannt wurde. Sie bestand aus ca. 30 bis dahin aus den KZs zurückgekehrten Häftlingen und ihre Zahl erhöhte sich schnell auf 80 Mitglieder. Ihr Ziel war es zunächst, die Grundversorgung der ehemaligen KZ-Häftlinge sicherzustellen, aber auch ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ zu betreiben für die Belange der Verfolgten. Im Juni 1945 hatte Bürgermeister Zuhorn den Antrag der Initiative schon genehmigt, im Wohlfahrtsamt eine Versorgungsstelle für ‚politische Häftlinge‘ zu organisieren. Später wurde die Organisation in den städtischen ‚Sonderhilfsausschuss‘ eingegliedert und damit Teil des städtischen Amts für Wiedergutmachung. Die Anbindung an das städtische Wohlfahrtsamt und das Gewerbeamt war dabei eng. Dieser städtische Ausschuss organisierte neben der behördlichen ‚Alltagsarbeit‘ wie dem Ausstellen von Ausweisen unter anderem auch Sammlungen für ‚politisch, rassisch und religiös Verfolgte‘ etwa im Frühjahr und im Herbst 1947. Diesem Ausschuss saß je ein Vertreter aller im Rat vertretenen politischen Parteien bei.“

Genaueren Aufschluss über einen Teil von Dieckmanns Aktivitäten gibt die „Akte betr. Wiedergutmachungsangelegenheiten, ehem. KZ-Häftlinge, Betreuung polit. Häftlinge“ im Stadtarchiv. Die Akte enthält mehrfach von Dieckmann erstellte und ergänzte Auflistungen von Rückkehrern aus den KZ sowie Übersichten über die Empfänger von Gütern aus den „gesammelten und beschlagnahmten Beständen für ehemalige politische Häftlinge und deren Angehörige und sonstige lebenswichtige Bedürfnisse“, d.h. z.B. auch „total ausgebombte“ Personen. Angegeben sind z.T. auch die KZ-Haftdauer bzw. das besondere persönliche Schicksal. Nach einer dieser Übersichten erhielt „Aug. Dieckmann, Schlossplatz 5 K.Z. Häftling“ als Nummer 56 „1 Betttuch, 1 Schürze, 2 St. Leinen, 1 Unterhose, 1 Buntes St. Leinen, 5 Abwaschtücher, 3 Aufnehmer, 2 Lagen Wolle, Futter, 1 Paar Wadenstrümpfe, 1 Paar Socken, 2 Binder, Nähgarn, Twist und Zwirn“.

Ab September 1945 verfügte das Wiedergutmachungskomitee über Geschäftsräume im ehemaligen Luftgaukommando an der Manfred-von-Richthofe-Straße. Die vollständige Bezeichnung dieser Einrichtung lautete gemäß Briefkopf „Wiedergutmachungs-Komitee Münster (Westf.). Rechtsanspruchsvertretung der im Dritten Reich politisch Geschädigten. Betreuungsstelle für politische Konzentrationshäftlinge und Gefangene“. Von hier aus und mit diesem Briefkopf übersendet Dieckmann am 25.9.1945 als Vorsitzender des Wiedergutmachungskomitees dem Oberbürgermeister die „vollständige Liste der bis heute bei uns gemeldeten ehemaligen politischen Gefangenen. Konzentrationäre, Inhaftierte und aus rassepolitischen Gründen Geschädigte.“ Die maschinenschriftliche Liste enthält 141 Namen sowie 8 handschriftliche Ergänzungen. Eine Aktualisierung der Liste sollte Mitte des folgenden Monats, also Mitte Oktober 1945, erfolgen.


Das Schreiben enthält ferner eine Mitteilung über das Verfahren der Anerkennung als politischer Häftling:

„Die bei uns gemeldeten politischen Häftlinge und sonstige werden nach einem Antrag auf Ausstellung eines politischen Ausweises durch einen Prüfungsausschuss bestehend:
Aus dem Syndikus
der Vorsitzende
4 Mitglieder des Komitees als Prüfungsausschuss zusammengesetzt aus Vertretern, des Zentrums, der Demokraten, der Sozialisten und der Kommunisten.
als politische Häftlinge usw. anerkannt.“

Auffallend ist, dass immer wieder die Abgrenzung zu „Kriminellen und Asozialen“ unter den KZ-Rückkehrern gesucht und betont wird; so Dieckmann in einem Schreiben an den geschäftsführenden Oberbürgermeister vom 02.8.1945. Und so berichtet das Wohlfahrtsamt der Stadtverwaltung Münster am 26.9.1945 an den Regierungspräsidenten über die bisherige „Betreuung politischer Häftlinge“, die Arbeit des Wiedergutmachungs-Ausschusses und den Abgleich mit der Kriminal-Dienststelle der Landespolizei Münster und fügt dem Bericht ein „Verzeichnis der Konzentrationäre“ mit den Namen und Leistungen von 58 Personen und dem Vermerk, ob „krim. vorbestraft“ bei.


Dieses Vorgehen hat u.a. auch etwas mit der Wahrnehmung der zurückgekehrten KZ-Häftlinge in weiten Teilen der Öffentlichkeit zu tun. Hier schlägt die Strategie der Nazis durch, in den Konzentrationslagern bewusst neben den politisch, religiös und aufgrund der NS-Rassenideologie Verfolgten auch Schwerkriminelle bzw. „Berufsverbrecher“ und sogenannte „Asoziale“ bzw. „Arbeitsscheue“ zu inhaftieren, um die Grenzen zwischen Verfolgung und Strafvollzug verschwimmen zu lassen und erstere mit zu kriminalisieren bzw. abzuwerten.

Schon bald erfolgt in den Übersichten eine Trennung zwischen politischen und aufgrund der NS-Rasseideologie Verfolgten. Eine „Liste der aus den Konzentrationslägern zurückgekehrten politischen Gefangenen und jüdischen und halbjüdischen Schutzhäftlingen“ vom 20.7.1945 nennt 50 Personen, ein Nachtrag vom 13.8.1945 weitere 32 Personen. Eine gesonderte „Liste der bis heute in Münster und Münsterland erfassten, zurückgekehrten Juden und Halbjuden“ vom 7.9.1945 nennt 51 Namen.


Volmer-Neumann stellt hierzu fest: „Insgesamt aber separierten sich die unterschiedlichen Verfolgtengruppen oft schon früh voneinander. Gerade die jüdischen Verfolgten gründeten schnell eigene Hilfskomitees; ihre Betreuung wurde in politischen Gruppierungen auch nicht selten gesondert und abgestuft von der allgemeinen Betreuung behandelt.

Vom Akteur zum bürokratisch verwalteten Versorgungsempfänger

Die Phase der sozusagen von unten gewachsenen Initiativen wie die des Wiedergutmachungskomitees währte nur kurz. Das Wiedergutmachungskomitee beendete Anfang 1946 seine Tätigkeit als relativ selbstständige Einrichtung.


Veränderungen im Betreuungssystem und in den Zuständigkeiten hatten sich bereits im Spätsommer/Herbst 1945 angedeutet. Zwei Sachverhalte waren dafür maßgeblich verantwortlich. Zum einen übernahmen die vorhandenen zivilen Verwaltungen unter britischer Militäraufsicht immer mehr ihrer angestammten Aufgaben und zugleich auch die insbesondere durch die Kriegsfolgen neu hinzugekommenen. Diese bestanden vor allem in der Fürsorge für die große Zahl von Menschen, die sich selbst auch als Opfer des Nazi-Regimes, zumindest aber als Opfer und Geschädigte des verlorenen Krieges sahen, die Ausgebombten und Wohnungslosen, die in die Stadt zurückkehrten, die ehemalige Soldaten, die Flüchtlinge und Vertriebenen. Die politischen NS-Opfer gerieten in der Konkurrenz gegenüber diesen Anspruchsgruppen in die Rolle einer zumindest zahlenmäßig nahezu unbedeutenden Minderheit. Ihre Zusammenschau einer materiellen und zugleich politisch-moralischen Entschädigungs- und Wiedergutmachungsverpflichtung der Nachkriegsgesellschaft verlor an Bedeutung, im Vordergrund stand die Fürsorgefrage, in ihren Möglichkeiten diktiert von den engen finanziellen Mitteln, die zur Verfügung standen. Beide Faktoren flossen zulasten der politisch Verfolgten auch dadurch ineinander, dass sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der zuständigen Ämter in der Regel eher mit der zahlenmäßig deutlich größeren Gruppe der aufgrund der allgemeinen Kriegsfolgen Fürsorge- und Entschädigungsbedürftigen identifizierten als mit den politisch Verfolgten.

Auch wenn offizielle Stellen Verständnis für die besondere Situation der politisch Verfolgten äußerten, „galt die Betreuung von NS-Opfern vordringlich als Fürsorgeproblem, dem enge finanzielle Grenzen gesetzt waren“. „Ein genereller Rechtsanspruch auf Entschädigung oder Rückgabe entzogenen Eigentums bestand in dieser direkten Nachkriegsphase nicht und war vorerst auch nicht vorgesehen.“ Dies betraf vor allem auch den Ausgleich beruflicher Benachteiligungen, materieller Verluste und gesundheitlicher Schäden.

Die Folge bei vielen der aktiv gewordenen politisch Verfolgten war vermutlich Enttäuschung, Enttäuschung über die geringen Entschädigungsleistungen und Enttäuschung über den Bedeutungs- und Einflussverlust beim Aufbau eines neuen, antifaschistisch ausgerichteten Deutschlands. Zu den so Enttäuschten wird sicherlich auch August Dieckmann gehört haben.
Insofern fällt die Kennzeichnung des Zeitraums zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. Ende der NS-Herrschaft 1945 und Währungsreform 1948 durch Philipp Erdmann als „offenen Möglichkeitsraum“ meines Erachtens zu optimistisch aus.

Fragen und Probleme der Bewertung individuellen Handelns

Sicherlich kommt August Dieckmann ein Verdienst zu, sehr rasch nach Kriegsende und Befreiung im Kontakt mit der britischen Militärverwaltung und der von dieser eingesetzten Stadtverwaltung und ihren Repräsentanten initiativ im Sinne der NS-Verfolgten geworden zu sein und erste Strukturen der Fürsorge mitentwickelt und mitgetragen zu haben, von Entschädigung und oder Wiedergutmachung gar nicht zu reden, auch wenn sich das Komitee so nannte.

Dennoch gibt es zu denken, dass sich sowohl in der Wiedergutmachungsakte als auch in der Stasi-Akte kritische Anmerkungen zu der Art der Wahrnehmung der genannten Tätigkeiten durch Dieckmann finden.


So erhebt ein Bericht des Sonderdezernats für politisch rassisch und religiös Verfolgte beim Regierungspräsidenten an den Sozialminister des Landes NRW vom 7.2.1949 im Zusammenhang mit einem Antrag Dieckmanns auf eine Sonderbeihilfe recht drastisch formulierte Vorwürfe der Willkür, des Amtsmissbrauchs, der Vorteilsnahme und der Bereicherung, ein „Treiben“, das der Militärregierung schließlich „zu bunt“ geworden sei und zur Aufhebung des Komitees geführt habe. Volmer-Neumann kann diese Vorwürfe nach Prüfung der einschlägigen Akten allerdings weder be- noch widerlegen.


Andererseits enthält auch ein internes Schreiben der Kreisleitung Münster der KPD vom 6.8.1946 an die Bezirksleitung in Herne „Betr.: Abschlußbericht über den Fall Dieckmann“ Vorwürfe gegenüber der Amtsführung Dieckmanns als Vorsitzendem des Wiedergutmachungskomitees, wenn auch in wesentlich allgemeinerer und abgeschwächter Form. In dem von dem damaligen Münsteraner KPD-Vorsitzenden Georg Kipp (1906 – 1978) gezeichneten Schreiben, in dem mitgeteilt wird, dass die Funktionäre der Ortsgruppe Münster-Neutor in ihrer Sitzung vom 5.8.1946 „den Genossen Dieckmann seiner Funktionen enthoben“ haben, heißt es u.a.: „Ich selbst halte den Genossen Dieckmann für einen fähigen und auch aktiven Genossen. Er ist hilfsbereit, aber aufgrund seiner oft hemmungslosen Veranlagung hat er sich auch in seiner Tätigkeit als Vorsitzender des Wiedergutmachungs-Komitees zu Dingen hinreißen lassen, die als parteischädigend anzusehen sind. Fest steht, dass innerhalb der Mitgliedschaft unserer Partei eine starke Mißstimmung gegen ihn besteht und daß auch in weiten Kreisen der Bevölkerung ungünstig über ihn gesprochen wird.“


Verlässliche Zeugen oder Quellen werden in beiden Fällen nicht genannt. Allerdings verrät das Schreiben des Dieckmann vermutlich eher wohlgesonnenen Münsteraner KPD-Vorsitzenden etwas über den offensichtlich schwierigen Charakter Dieckmanns.

Wie vorsichtig man mit Darstellungen und Beurteilungen dieser Art umgehen muss, zeigt Erdmann am Beispiel ähnlicher Aussagen über die Amtsführung des Leiters des Gewerbeamtes. Auch hier ergänzt er freundlicherweise in einer Mail an den Verfasser:
„Solche (wechselseitigen) Vorwürfe im (vor-)politischen Raum sind für die Nachkriegszeit in vielfacher Weise dokumentiert und überliefert: Vieles musste situativ, spontan und vor allem vor Ort ohne überregional einheitliche Verfahren geregelt werden. Vor allem im Bereich der Entnazifizierung, aber auch auf anderen politischen Handlungsfeldern, auf denen knappe Güter und/oder der Umgang mit der NS-Vergangenheit verhandelt wurde, finden sich solche Vorwürfe der personellen Verstrickungen, der persönlichen Bereicherungen oder der ungerechten Verteilungen. Sicher sind diese Gefühlslagen ein zentrales Element der deutschen Nachkriegsmentalität. Das haben Sie sicher auch schon in verschiedensten Quellen finden können. Nur leider lassen sich diese Vorkommnisse in den seltensten Fällen verifizieren.
In Ihrem Fall müsste man hoffen, in den Akten der britischen Militärregierung für den Regierungsbezirk Münster oder für die Stadt Münster einen entsprechenden Hinweis auf ihr Einschreiten im Fall Dieckmann zu finden. Das halte ich für unwahrscheinlich. Sämtliche Unterlagen der Militärregierung, sofern noch vorhanden, liegen in den National Archives in Kew bei London. Ich habe mich intensiv mit diesen beschäftigt und fand dort selten Verweise auf solche Einzelfälle, solange sie nicht vor Militärgerichten verhandelt wurden. Der überwiegende Teil der Überlieferung bezieht sich auf die Verwaltungsverfahren, sprich: Anweisungen, Durchführungsbestimmungen, Rundschreiben etc. – das ist alles spannend, um das Funktionieren der Nachkriegsregierungen zu verstehen, aber hilft in Einzelfällen kaum weiter.
Für unwahrscheinlich halte ich eine entsprechende Intervention der Militärregierung nicht, aber das ist alles hochspekulativ. Die Person Kipp als Vorsitzender der lokalen KPD ist übrigens auch spannend; er war u.a. Mitglied in einem Entnazifizierungsausschuss und ähnlich ‚prominent‘ wie A. Dieckmann für die KPD. Vermutlich waren die Vorwürfe gegen Dieckmann nicht ganz unberechtigt, wenn sie auch parteiintern diskutiert wurden. Gleichwohl wäre auch hier genau prüfen, inwieweit parteipolitische Konfliktlinien mit Vorwürfen gegen persönliches (Fehl-)Verhalten zusammenfallen.


Wie so oft für die Nachkriegszeit würde ich auch in diesem Fall vorschlagen: Belegen lässt sich wenig für eine Zeit, in der wenig schriftlich fixiert wurde und viele Entscheidungen situativ getroffen wurden. Bei vielen Fragen der ‚Regulierung‘ der Vergangenheit oder des Wiederaufbaus fallen Antworten abhängig vom politischen Standpunkt (des Zeitgenossen und der heutigen Forschenden) aus. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als mit Plausibilitäten zu argumentieren und die innere bzw. ‚mentale‘ Zerissenheit oder gar Widersprüchlichkeit dieser Zeit und ihrer Zeitgenossen auch als solche sichtbar zu machen.“

Dieckmanns Kampf um Entschädigungsleistungen („Wiedergutmachung“?)

Die Wiedergutmachungsakte, aus der hervorgeht, dass August Dieckmann bereits frühzeitig als politisch Verfolgter anerkannt worden war, spiegelt über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren detailliert den Kampf des Betroffenen mit den Problemen der Antragstellung, der Berechnung und der Bewilligung von Entschädigungen für die durch die politische Verfolgung in der Zeit der Naziherrschaft erlittenen materiellen und immateriellen Schäden. Hierbei spielt eine Rolle, dass sich stabile Grundlagen und Regelungen für die Entschädigung erst über die Jahre entwickelten und es erst mit dem Bundesergänzungsgesetz 1953 und dann mit dem Bundesentschädigungsgesetz, verabschiedet am 29.6.1956 rückwirkend zum 1.10.1953, eine bundeseinheitliche Grundlage gab, deren Anwendung durch das Warten auf Ausführungsbestimmungen noch weiter verzögert wurde.


Aus dieser Tatsache ergab sich, dass Dieckmann zunächst immer wieder versuchte, für einzelne Schadenssachverhalte eine Beihilfe bzw. Entschädigung zu bekommen. So beantragte er am 15.1.1949 beim Kreissonderhilfsausschuss eine „Beihilfe aus den Mitteln des Sozialministers“ zur Anschaffung von Möbelstücken zum zumindest teilweisen Ersatz für den im März 1945 durch „totalen Bombenschaden“ erlittenen Verlust der Wohnungseinrichtung.


Beim Amt für Wiedergutmachung beantragte Dieckmann im August 1949 eine besondere Entschädigung dafür, dass er sich bei Kriegsende, und zwar Ende Februar 45 mit Frau und Tochter in Richtung holländische Grenze abgesetzt habe und ein illegales Leben habe führen müssen wie andere Gegner des Naziregimes auch, aus Angst vor erneuter Verfolgung, Verhaftung oder sogar Liquidierung durch Gestapo und SS, die bekanntermaßen Todeslisten von Nazi-Gegnern angelegt hätten. Das Sonderdezernat für politisch, rassisch u. religiös Verfolgte beim Regierungspräsidenten lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 28.11.1950 und folgender Begründung ab:
„Die Unterlagen reichen nicht aus, die genannte Zeit als illegales Leben auf Grund politischer Verfolgung anzuerkennen. Dieckmann hat in den Jahren 1943 – 1945 für Behörden (Gauleitung, Regierung, Gestapo, SA usw.) gearbeitet. Gründe für eine politische Verfolgung, die zu einer Flucht Anlass gaben, insbesondere im März 1945 sind nicht ersichtlich. Für die Angabe, er habe Münster verlassen, weil er gehört habe, dass ehemalige Widerstandskämpfer erschossen werden sollten, fehlt jeder Anhaltspunkt und erscheint sehr fadenscheinig. Es muss bei der Sachlage unterstellt werden, dass Dieckmann Münster im März 1945 wegen des Bombenterrors verlassen hat und sich nach Ochtrup begeben hat, wohin die ihm bekannte Familie Hüsing evakuiert war.“
Selbst wenn die Flucht vor den Bombenangriffen der eigentliche Grund für das Verlassen Münsters gewesen sein sollte, immerhin war die eigene Wohnung im März 1945 zerstört worden, fällt auf, dass die unter Kontrolle der Gestapo stehende Arbeit für staatliche Stellen und Zwangsorgane des NS-Staates nicht als Ausfluss und Bestandteil der politischen Verfolgung angesehen wird.

Als es dann in den 50er Jahren zu bundeseinheitlich geregelten Entschädigungsverfahren kam, macht schon allein der zeitliche Ablauf der Antragsbearbeitung deutlich, welche Zumutung Betroffene zu erwarten und zu verarbeiten hatten.


August Dieckmann stellte am 25.7.1954 auf Grund des Bundesergänzungsgesetzes für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung vom 18.9.1953 einen Antrag auf Entschädigung in zwei von sechs vorgegebenen Schadenskategorien, und zwar für „Schaden an Körper und Gesundheit“ und für „Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen“. Bezüglich einer weiteren Schadenskategorie, „Schaden an Freiheit“, war Dieckmann bereits durch den „Ausschuß für die Entschädigung der Freiheitsentziehung“ mit Beschluss vom 12.5.1950 eine Entschädigung in Höhe von 2400 DM zugesprochen worden, auf deren Auszahlung er jedoch warten musste, wie seine Nachfrage vom 21.7.1950 deutlich macht.


Mit Datum vom 22.7.1955, legte die Stadtverwaltung Münster dem Dezernat für Wiedergutmachung beim Regierungspräsidenten einen „Ermittlungsbericht zum Entschädigungsantrag“ von August Dieckmann vor. Zentraler Bestandteil ist eine „Stellungnahme zur Glaubwürdigkeit des Antragstellers und seiner nicht durch amtliche Auskünfte bewiesenen Angaben“. Die Stellungnahme gewichtet die Entschädigungsansprüche im Detail und bezieht bisherige Entschädigungsleistungen mit ein. Die Bescheide erfolgen schließlich getrennt nach den beiden beantragten Schadenskategorien.


Der Bescheid des Dezernats für Wiedergutmachung zur Schadenskategorie „Körper und Gesundheit“ erfolgt am 8.5.1956 und gewährt Dieckmann den „Anspruch auf ein Heilverfahren“. Hierbei dürfte die im „Ermittlungsbericht“ erwähnte Stellungnahme Franz Ballhorns, NS-Verfolgter aus dem Bereich des katholischen Widerstands und aktiv in verschiedenen Funktionen nach Kriegsende und Befreiung, eine förderliche Rolle gespielt und somit zu einer Korrektur der bisherigen Ablehnung geführt haben.


Der Bescheid zur Frage der Entschädigung wegen „Schadens im beruflichen Fortkommen“ ergeht am 15.11.1958, also nach mehr als vier Jahren, immerhin mit detaillierten Begründungen für die Entscheidung, „dem Antrag zum Teil stattzugeben“. Auch hier auffällig die bereits aus einem anderen Aktenvorgang zitierte verharmlosende Darstellung seiner unter Kontrolle der Gestapo stehenden Arbeitsverpflichtung nach seiner Entlassung aus dem KZ: „Bei seiner 2. Inhaftnahme stand er in einem festen Arbeitsverhältnis und wurde nach Entlassung aus der Haft am 10.1.1941 wieder in seinem Beruf in Arbeit vermittelt.“ Interessant ist in diesem Bescheid die Anerkennung und Berechnung der Entschädigungsleistung in Analogie zur Beamtenbesoldung des mittleren Dienstes, wichtig vor allem für die aufwändige Rentenbe- und verrechnung.

Die u.a. durch die Bearbeitungsdauer seiner Entschädigungsanträge prekäre Situation Dieckmanns belegt die Beantragung und Bewilligung einer Vorauszahlung in Höhe von 350 DM auf die zu erwartende Entschädigung zur Deckung der Bestattungskosten beim Tod seiner Mutter im Jahr 1955.


Aber auch mit dem Zugeständnis im Bescheid vom 15.11.1958 scheinen die finanziellen Probleme nicht gelöst. Mit einem handschriftlichen Schreiben vom 10.4.1964 beantragt Dieckmann eine nachträgliche Entschädigung für die Tatsache, dass er in der KZ-Haft seine eigene Kleidung tragen musste sowie dafür, dass ihm bei der Inhaftierung eine goldene Uhr sowie sein goldener Trauring abgenommen und bei der Entlassung nicht wieder ausgehändigt worden waren. Einvernehmlich wird ihm dafür eine einmalige Entschädigung in Höhe von 400,00 DM zugestanden.

Mit Befremden nimmt man zur Kenntnis, dass unterschiedliche Renten gegeneinander verrechnet werden, so die „Berufsschadensrente“ mit der „Körperschadensrente“ und diese schließlich mit der „Invaliden- und Unfallrente“.


Mit einem mehrseitigen Schreiben vom 30.4.1966 beantragt Dieckmann eine 20%ige Erhöhung seiner Berufsschadensrente. Mit Bescheid vom 15.11.1966 wird ihm rückwirkend zum 1.1. des Jahres eine Erhöhung der monatlichen Rentenzahlung um 3,00 DM auf 16,00 DM gewährt. Es ist der offensichtlich letzte Bescheid dieser über zwanzigjährigen „Wiedergutmachungs“-angelegenheit. Er enthält wiederum eine detaillierte mehrseitige Auflistung und Verrechnung der bisher beantragten und bewilligten Rentenzahlungen.

Zum Verlauf dieses Entschädigungsverfahrens gehört aber auch, dass nach dem Verbot der KPD 1956 behördlicherseits im Folgejahr bis hinauf in das Innenministerium nachgefragt wird, ob Dieckmann, der ja „vor 1933 bis unbekannt Mitglied der KPD in Münster/W.“ gewesen sei und das auch als Funktionär, „nach dem 25.Mai 1949 die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft hat, insbesondere ob D. nach dem Verbot der KP. für diese Organisation gearbeitet hat.“ Dabei unterstellt das vom Wiedergutmachungsdezernat angefragte Kommissariat 14, das sich seinerseits an den Innenminister wendet: „Nach den vorliegenden Unterlagen hat der Obengenannte sich in der KPD in Münster bis zu ihrem Verbot betätigt“. - So viel zum Kenntnisstand der Behörden zehn Jahre nach dem Übertritt Dieckmanns in die SPD. – Gemäß § 6 des gerade 1956 verabschiedeten BEG hätte ein fortdauerndes Engagement für die KPD bzw. ein politisches Wirken gegen die „freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes“ Dieckmann von weiteren Entschädigungen ausgeschlossen. Auf diesem Hintergrund muss man wohl die Nachfragen sehen. Ein Ergebnis findet sich in der Akte nicht, zumindest hat es im weiteren Verfahren offensichtlich keine hinderliche Rolle gespielt.

Folgen der Verfolgung: „Schaden an Körper und Gesundheit“ und „Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen“

In der Wiedergutmachungs- bzw. Entschädigungsangelegenheit Dieckmann spielten, wie schon aus der bisherigen Darstellung deutlich wird, zwei Fragestellungen eine zentrale Rolle, die Widersprüche und Konflikte zwischen Wiedergutmachungsregelungen, Selbstwahrnehmung des Betroffenen und Beurteilung durch Dritte, sei es durch die Bürokratie, sei es durch Zeitgenossen deutlich machen. Seine Einstufung als politisch verfolgte Person mit grundsätzlicher Anspruchsberechtigung auf Entschädigungen wurde dabei nie infrage gestellt, sieht man von der eben zitierten und besprochenen, aber folgenlosen Anfrage ab. Die Probleme stellten sich im Detail.

Eine erste zentrale Frage war, ob gesundheitliche Beeinträchtigungen eine Folge der KZ-Haft waren oder ob sie konstitutionell bedingt einzuschätzen und damit nicht entschädigungswürdig sind.
Dazu gab es sogar im April 1952 ein Verfahren vor der Spruchkammer des Oberversicherungsamtes Münster mit fachärztlichen Gutachten, eine „Beschädigtenstreitsache“, die zu Ungunsten von Dieckmann entschieden wurde. Es ging um die Ursache von Hautexzemen an den Händen, unter denen Dieckmann zu leiden hatte und die seine Arbeitsfähigkeit als Handwerker beeinträchtigten und die er auf unhygienischen Haftbedingungen im KZ zurückführte. In diesem Fall wurden diese Symptome nicht den Haftbedingungen, sondern konstitutionellen Bedingungen der Person Dieckmann zugeschrieben.


Dass Dieckmann dieses nicht akzeptiert hat, ist einem späteren Vorgang zu entnehmen, dem Ermittlungsbericht zu seinem Entschädigungsantrag vom 25.7.1954, dem offensichtlich eine „Erklärung“ von Franz Ballhorn „über die hygienischen Verhältnisse dieses Lagers“ vom 1.8.1953 beigefügt war, der wie Dieckmann in Sachsenhausen inhaftiert war, und zwar von 1940 bis 1945, und aus seiner Erfahrung als Blockältester im Krankenrevier berichtet: “Als Blockältester eines Revierblocks (Krankenbau) sind mir die katastrophalen Auswirkungen der mangelhaften Hygiene besonders sichtbar geworden. Krätze und Hautekzeme hartnäckigster Art waren häufige Krankheitsbilder.“ Franz Ballhorn (1908 – 1979) war ein bedeutendes Mitglied des katholischen Widerstands, war 1934 in die Niederlande geflohen und dort 1940 von den Nazis verhaftet und in das KZ Sachsenhausen verbracht worden. Nach der Befreiung gehörte er kommunalen Ausschüssen für Entnazifizierung und Wiedergutmachung an, war Amtsdirektor in Nottuln, Mitglied der VVN und später lange Jahre Bundesvorsitzender der DJK, des katholischen Sportverbandes.
Die Tatsache offensichtlicher körperlicher Schäden Dieckmanns („Nasenscheidewandverbiegung“) und ihrer Folgen wurden dagegen nicht infrage gestellt, wobei aus den Akten nicht hervorgeht, was die genauen Ursachen dieser Beschädigungen waren. Sie werden relativ neutral als „Haftfolge“ bezeichnet und nicht eindeutig als die Folge von „Mißhandlungen“, wie es Dieckmann an anderer Stelle formuliert.


Zu diesen gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinzu kam 1956 erschwerend noch ein Unfall mit einem komplizierten Unterschenkelbruch, was letzten Endes im August 1958 zur Berufsunfähigkeit, Invalididät und vorzeitigen Verrentung führte. Das kreisärztliche Gutachten vom 8.9.1958 gibt ein erschütterndes Bild des Gesundheitszustandes von August Dieckmann: „Leidet an erheblicher körperlicher und nervöser Erschöpfung, an nässendem Hautekzem, starkem Zahnmangel und Herzleistungsschwäche, sowie an Plattfüßen, Arthrosis deformans der Sprunggelenke und Restzustand nach Unterschenkelbruch links, ferner an chronischer Bronchitis. Unter Berücksichtigung von Anamnese und Befund ist festzustellen, daß höchstwahrscheinlich seit 1.11.53 eine dauerhafte Erwerbsminderung von mehr al 50% besteht.“

Eine zweite zentrale Frage für Dieckmann war, inwieweit er durch seine Behandlung als politischer Gegner des NS-Regimes in seinem beruflichen Fortkommen behindert wurde. Da ihm als Regime-Gegner die Ausstellung eines polizeilichen Führungszeugnisses verweigert wurde, konnte er sich nicht zur Meisterprüfung in seinem Fach anmelden. Sein entsprechender Antrag wurde mit dem Vermerk „politisch untragbar“ abgelehnt. Dafür beantragte Dieckmann eine entsprechende Entschädigung, die ihm nach dem Bundesentschädigungsgesetz im Grundsatz auch gewährt wurde. Nach Kriegsende waren die gesundheitlichen und psychischen Folgewirkungen und Belastungen offensichtlich so stark, dass er sich aus diesem Grund nicht in der Lage sah, die Meisterprüfung abzulegen. Das durch das Städtische Gewerbeamt beschlagnahmte und ihm übertragene Elektrogeschäft Steinfurter Straße 24, Inhaber Josef Ontrup, konnte er aus diesem Grund nicht halten. Über die Gründe für die Beschlagnahmung durch das Gewerbeamtes erfahren wir aus dieser Akte nichts. Das Einwohnerbuch für 1950 verzeichnet jedenfalls Josef Ontrup weiterhin bzw. wieder als Inhaber dieses Elektrogeschäftes.


Stattdessen nahm Dieckmann eine Tätigkeit als Elektriker in der Druckerei Fahle auf. Wohl von dort aus versuchte er einen anderen Weg, um zu einem selbstständigen Gewerbe zu kommen und die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Das ergibt sich aus einem Antrag an den Kreissonderhilfsausschuss vom 21.7.1948 auf „Berücksichtigung bei der Gewährung eines Kredits“. Es geht um technische Ausstattung, die Dieckmann für die Erstellung einer Meisterprüfungsarbeit benötigt. Dieser Antrag wird von Stadtrat Heinrich Hemsath am 23.7.1948 mit begleitenden Erläuterungen zur Person Dieckmanns an das Sonderdezernat für politisch, rassisch und religiös Verfolgte beim Regierungspräsidenten weitergeleitet. Weiteres, ob der Kredit gewährt wurde, ob Dieckmann die Prüfungsarbeit in Angriff nehmen konnte, enthalten sie Akten nicht. Nach den uns vorliegenden Kenntnissen ist davon auszugehen, dass auch dieser berufliche Schritt nicht gelang.

Aufschlussreich für die Frage der Einschätzung und Bewertung eines „Schadens im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen“ im gewerblichen Bereich ist der Vergleich mit dem öffentlichen Dienst und den dort Beschäftigten, die durch das NS-Regime entlassen oder in ihrem beruflichen Fortkommen behindert worden waren.  Bereits am 6.7.1946 behandelt ein Erlass des Oberpräsidenten die Frage der „Wiedergutmachung an den während des Naziregimes aus politischen oder rassischen Gründen entlassenen oder in den Ruhestand versetzten Beamten.“ Weitere Erlasse auf Bezirksebene und schließlich Runderlasse auf ministerieller Ebene beschäftigen sich mit der „Beförderung von Beamten im Wege der Wiedergutmachung“, „Sonderprüfungsverfahren für Beamte und Beamtenanwärter, die politisch verfolgt waren oder sonst beschädigt sind“ sowie den Problemen der Berechnung des Ruhegehaltes.

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch ein Erlass des Sozialministers vom 5.12.1948 über „Beschwerden darüber, dass politisch, rassisch und religiös Verfolgten in nicht genügender Anzahl im öffentlichen Dienst beschäftigt bzw. in diesen eingestellt werden. Wiederholt ist mir auch berichtet worden, dass diesem Personenkreis nicht genügend Aufstiegsmöglichkeiten gegeben würden oder versucht wird, ihn wieder aus den öffentlichen Diensten zu entfernen.“ Der Erlass schließt mit der Bitte um Bericht über die Anzahl der NS-Verfolgten unter den Beschäftigten. Der Bericht der Stadt Münster hierzu enthält das folgende Ergebnis: Von 303 Beamten wurden 3 NS-Verfolgte nach Mai 1945 neu eingestellt, von 846 Angestellten waren es 4 NS-Verfolgte u. von 1039 Arbeitern ebenfalls 4 NS-Verfolgte, von denen einer zwischenzeitlich wieder entlassen wurde. – Wie soll man das interpretieren?

Bundeseinheitliche Regelungen legte das „Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes“ vom 11.5.1951 bereits recht frühzeitig fest. Diese betrafen für den im Gesetz definierten Personenkreis Kompensationen für erlittene Einbußen in Gehalt und Altersversorgung, entgangene Einstellung oder Beförderung. Beamtengesetzliche Grundlagen und Laufbahnregelungen gaben hier Entschädigungsmaßstäbe vor, die sich im Bereich der gewerblichen Arbeit so nicht finden und auch nicht konstruieren ließen, so dass die davon Betroffenen dies als Nachteil und Benachteiligung empfinden mussten. Erst später kam es zu analogischen Lösungen in Fällen außerhalb des öffentlichen Dienstes wie im Fall Dieckmann.

Dieckmann und die Münsteraner KPD

Ausschlaggebend für seine weitere politische Biografie, nachdem seine quasi amtliche Tätigkeit in der Wiedergutmachungsangelegenheit schon nach wenigen Monaten durch die geschilderten Veränderungen ausgelaufen war, war die Entwicklung seiner Position und Rolle innerhalb der Münsteraner KPD im Jahr 1946. Hierzu gibt eine Akte der Münsteraner KPD recht umfangreich Auskunft.

Worum ging es? Nach seiner Entlassung aus der KZ-„Schutzhaft“ am 24.12.1940 unterlag Dieckmann einer strengen Meldepflicht bei der Gestapo. Seine Tätigkeit bei der AEG konnte er nicht wieder aufnehmen, weil die Gestapo seinen Arbeitseinsatz anordnete und bestimmte. Dies geschah in der Zeit vom 10.1 1941 bis zum 1.4.1945 über die Beschäftigung als Elektromonteur bei der Firma Carl Jansen, Norbertstr. 22. Eingesetzt war er vor allem zur Wartung und für Reparaturen, z.T. infolge der Bombenangriffe, in staatlichen Dienststellen sowie zur Betreuung der elektrischen Anlagen im „Bunker der Wasserstraßendirektion“, die zu der Zeit im Oberpräsidialgebäude, Schloßplatz 7, untergebracht war.


Dieckmann muss diese Jahre wohl als Zeit großer Unsicherheit und Belastung empfunden haben. Inwieweit er sich in diesen Jahren wirklich im Widerstand engagiert hat, wie von ihm behauptet, inwieweit er sich unauffällig, vielleicht sogar angepasst verhalten hat, lässt sich aus den eingesehenen Akten nicht zweifelsfrei ermitteln, weil hier häufig Aussage gegen Aussage steht.
Immerhin wird ihm innerhalb der KPD unmittelbar nach Kriegsende sein Verhalten nach der KZ-Haft eher als Kollaboration mit den Nazis denn als Widerstand ausgelegt. Die Kontroverse betrifft insbesondere zwei Vorgänge und Sachverhalte, eine von Beobachtern als „freundschaftlich“ bzw. sogar „herzlich“ angesehene Begegnung mit einem NS-Funktionär und ehemaligen Klassenkameraden auf dem Hindenburgplatz kurz vor Kriegsende und Dieckmanns als autoritär und anmaßend verstandenes Verhalten im Bunker der Wasserstraßendirektion, für dessen elektrische Versorgung er verantwortlich war. Beides zeigt zumindest die Ambivalenz, in der sich Dieckmann befand, zu befinden glaubte, angesichts seiner Entlassung auf Bewährung und der Überwachung durch die Gestapo. Mehrfach schreibt er von seiner Angst, bei technischen Fehlern in den von ihm betreuten elektrischen Anlagen der Sabotage bezichtigt werden zu können. Hinzu kam dann noch nach Kriegsende seitens seiner Genossen der Vorwurf der Arbeit für den englischen Geheimdienst.

Hinweise auf illegale bzw. Aktivitäten im Untergrund sind im Kontext der innerparteilichen Auseinandersetzungen um seine Person allerdings eher spärlich und allgemein. Sie beziehen sich vor allem auf Äußerungen Dieckmanns im vertrauten Kreis, so zum Beispiel die Ausführungen der Genossen Heinrich Bonkhoff und Heinrich Grober. Bonkhoff kennt Dieckmann offensichtlich seit seiner Kindheit und bezeugt im Rahmen einer eidesstattlichen Erklärung vom 07.08.1946 dessen kommunistische und antifaschistische Einstellung von Anfang an. „Nach seiner Entlassung aus dem K.Z.-Lager hat er wieder in meiner Gegenwart des öfteren in Anwesenheit aller Volksschichten den brutalen Terror des Nazistaates angegriffen, besonders in dem Tabakwarengeschäft des Herrn Karrenbroch, Augustastr. Ecke hatte er es soweit gebracht, daß sich dort wöchentlich mehrmals antifaschistisch Eingestellte trafen, um hier ausländische Sondermeldungen und sonstige gegnerische Aktionen gegen den Hitlerstaat zu diskutieren.“


Die parteiinternen Auseinandersetzungen um die Person August Dieckmann führen schließlich zu einem innerparteilichen Funktionsverbot im Sommer 1946. Von einem Parteiausschluss berichtet der Vorgang nicht. Möglicherweise ist Dieckmann diesem durch Austritt aus der KPD und Eintritt in die SPD zuvorgekommen. In seinem bereits zitierten politischen Lebensaufriss bezeichnet er sich jedenfalls für 1947 als Mitglied der SPD und Vorsitzenden der Stadtgruppe Neutor, als der er auch auf dem Plakat zur Maifeier 1948 verzeichnet ist. Über sein weiteres Engagement in der SPD enthalten die eingesehenen Akten keine Hinweise. Aber auch an anderer Stelle findet man nur allgemeine und im Detail spärliche Informationen über die die unmittelbare Nachkriegsgeschichte der SPD.

Einschätzung der SPD Münster, Parteiwechsel, VVN und DFU

Bemerkenswert ist Dieckmanns Einschätzung der inneren Strukturen der Münsteraner SPD. In einem längeren Brief vom 23.7.1946 an den Kadersekretär der KPD, Bezirksleitung Ruhrgebiert, Ewald Kaiser, Herne, im Zusammenhang mit den bevorstehenden Kommunalwahlen, in dem die aktuellen parteiinternen Querelen in der Münsteraner KPD aber mit keinem Wort erwähnt werden, schreibt Dieckmann, dass er von der KPD-Ortsgruppe Neutor als Kandidat vorgeschlagen worden sei und dass es darum gehe, „in dem Viertel Münsters das ein drittel der gesamten Bevölkerung stellt, meine Kandidatur der dortigen Einwohnerschaft bekannt geben. Hinzu kommt, dass ich selbst wie meine Familie seit mehr als 50 Jahren in diesem Stadtteil zu Hause bin.“ Und weiter: „Es liegt klar auf der Hand dass ich hier nicht nur bekannt bin, sondern darüber hinaus in ganz Münster. Hinzu kommt dass hier im grossen Neutorviertel keineOrtsgruppe der S.P.D. Fuss fassen konnte. Des weiteren besteht in dem Stadtteil eine starke Gruppe ehemaliger Sozialdemokraten, die bis heute keinen Anschluss in den Kreisverein der S.P.D. Münster haben. Dieser Gruppe wird durch persönliche Machenschaften der augenblicklichen Führung der S.P.D. (Geringhoff-Hemesath) die Aufnahme verwehrt. Dazu kommt, dass diese ehem. S.P.D. Genossen für die Einheit sind. Also kurz gesagt, für uns im Gesamtbezirk Neutor 3 Wahlbezirke agitatorisch auf die Wählerschaft einwirken; damit ein Pluss für uns. Weiter ist es möglich, dass der Kopf dieser oppositionellen Gruppe auf unserer Liste für die Einheit kandidiert. Bei der Wahl des Stadtparlamentes 1924 erhielt unsere Partei in Münster 1365 Stimmen, davon fielen auf meine Kandidatur in diesem Stadtteil über die Hälfte aller Stimmen.“

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass sich Dieckmann in seinem politisch-biografischen Überblick, wie bereits eingangs erwähnt, als „Mitbegründer der U.S.P.D. Bezirk Westfalen“ bezeichnet und für 1924 als „Stadtverordneter im Stadtparlament Münster“, ohne aber an dieser Stelle seine zu dieser Zeit bereits bestehende Mitgliedschaft in der KPD, wie sie aus dem eben zitierten Schreiben hervorgeht, zu erwähnen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die USPD bereits zerrieben zwischen SPD und KPD und dem Bestreben nach Eigenständigkeit, war von fast 19% bei den Reichstagswahlen 1920 auf 0,8% bei den Reichstagswahlen im Mai 1924 gesunken, was nicht einmal für ein einziges Mandat reichte.


Mit dem Begriff der „Einheit“, für die „diese ehem. S.P.D. Genossen“ seien, ist in dem Schreiben Dieckmanns offensichtlich die Einheit von KPD und SPD gemeint, in der sowjetischen Besatzungszone unter erheblichem Druck angestrebt und vollzogen, gleichwohl nach den Erfahrungen im Zusammenhang mit der Spaltung der Arbeiterbewegung und dem Scheitern der Weimarer Republik ein Thema bei Kommunisten und Sozialdemokraten auch in den westlichen Besatzungszonen.


In einem mehrseitigen handschriftlichen fast zeitgleichen Schreiben vom 16.7.1946 an die Kreisleitung der KPD Münster, namentlich an den Genossen Kipp, beschäftigt sich Dieckmann aber auch mit dem seiner Einschätzung nach „untragbaren“ und desolaten Zustand seiner eigenen Partei, wobei er vor allem fehlenden Einsatz und mangelnde Disziplin beklagt.

Insofern ist der Wechsel von Dieckmann zur SPD zu diesem Zeitpunkt und in diesem Kontext nachvollziehbar. Ratsherr der SPD wurde er jedenfalls weder im Jahr 1946 noch zu einem späteren Zeitpunkt. Engagiert hat er sich im Mieterschutzverein Münster und bis 1958 in Vorstandsämtern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), seit 1957 auch auf Kreis-, Landes- und Bundesebene.


Wie lange er SPD-Mitglied geblieben ist, ist nicht feststellbar. Sein Engagement in der VVN spricht allerdings dafür, dass seine SPD-Mitgliedschaft nicht von langer Dauer war, da es bereits 1948 seitens der SPD einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit einer gleichzeitigen Mitgliedschaft in der VVN gab, der erst 2010 – nach jahrelanger Nichtanwendung - wieder aufgehoben wurde. Bemerkenswert ist auch sein Interesse an der gleichfalls unter Beobachtung des politischen 14. Kommissariats stehenden Deutschen Friedens-Union (DFU), deren erste Gründungsversammlung eines Münsteraner Bezirksverbandes am 06.05.1961 in der Gaststätte Hemesath (Königsstraße 49) er laut Polizeibericht besuchte.


Dieser Bericht nennt eine Teilnehmerzahl von „ca. 60 Personen (davon 13 Frauen)“ - und listet unter „Davon bekannt“ namentlich 7 Personen auf, darunter auch August Dieckmann. Dieser wird auch in weiteren Berichten als Teilnehmer von Veranstaltungen im Vorfeld der Bundestagswahlen vom 17.9.1961 genannt.

Die „rote Liselotte“

Dabei traf er u.a. auch auf die zweite mit ihm zusammen auf dem Maiplakat genannte Person, Frau Dr. Liselotte Herx, die bei einer weiteren Gründungsversammlung am 26.5.61 zur Vorsitzenden des Münsteraner DFU-Bezirksverbandes gewählt worden war und zur Bundestagswahl 1961 als Kandidatin der DFU antrat.

Die Personalien von Dr. Liselotte Herx, die wohl Wert auf die besondere Schreibweise ihres Vornamens legte, werden in den Polizeiakten zur Überwachung der Deutschen Friedensunion (DFU) immer wieder stereotyp in folgender Weise wiedergegeben und aufgelistet:
Dr. Lieselotte H e r x – Vark, Rechtsanwältin,
geschiedene Vark, geschiedene Maull,
geb. am 25.10.1907 in Mühlheim/Ruhr,
wohnhaft in Münster, Raesfeldstr. 13.

Erst seit 1922 war die „Zulassung der Frauen zu den Ämtern und Berufen der Rechtspflege“, so der Titel des Gesetzes, zumindest gesetzlich gewährleistet. Liselotte Herx (Jahrgang 1907) gehörte somit zu den Frauen, die erstmals ein Jurastudium mit einer grundsätzlich garantierten Berufsperspektive aufnehmen konnten. Deren Umsetzung in der Wirklichkeit blieb allerdings noch lange bescheiden. Anfang der 30er Jahre betrug der Frauenanteil unter den Personen, die als Rechtsanwalt/Rechtsanwältin, bzw. zusätzlich als Notar/Notarin, praktizieren durften, 1,3 % (d.h. 252 von insgesamt 18.766) und in der Funktion Richter/Richterin und Staatsanwalt/Staatsanwältin 0,3% (d.h 36 von 10.441). Und dieser Anteil dürfte nach Ende der nationalsozialistischen Diktatur 1945 keinesfalls höher gewesen sein, so dass Liselotte Herx, die 1937 an der Universität Köln mit einer Dissertation über den „Giftmord – insbesondere durch Frauen“ promoviert wurde, als promovierte Juristin und zugelassene Rechtsanwältin auch in Münster eine Ausnahmeerscheinung in einem vornehmlich männlich geprägten Justizwesen war.

Über die politische Vergangenheit von Frau Dr. Herx, Beiname „rote Liselotte“ führt der bereits erwähnte Bericht der Gründungsversammlung vom 26.5.61 aus, dass sie „angeblich Mitglied der SPD war“, und über die Schwerpunkte ihrer beruflichen Tätigkeit heißt es: „In den letzten Jahren ist sie als Verteidigerin bei Prozessen gegen KP-Funktionäre, SDA-Funktionäre und FDGB-Funktionäre vor der Großen Strafkammer des Landgerichts in Dortmund in Erscheinung getreten.“
Es folgen Anmerkungen zu weiteren Teilnehmern und ein abschließendes Resümee: „Es konnte festgestellt werden, daß sich der Personenkreis der Veranstaltungsteilnehmer überwiegend aus früheren KPD-Mitgliedern und Funktionären zusammensetzte, bzw. Personen, die bei Veranstaltungen des BdD und der IdK in Erscheinung getreten sind. Von den z. Zt. 28 Mitgliedern der DFU in Münster gehörten 9 Personen der KPD an.“ Der Bericht schließt ab mit der Bemerkung: „Die Tätigkeit der DFU in Münster wird weiterhin überwacht.“

In weiteren Berichten wird deutlich, dass die DFU es bei ihren öffentlichen Veranstaltungen zunehmend mit politischen Gegnern zu tun bekam, die sich in den Diskussionen nach den einleitenden Vorträgen zu Wort meldeten oder diese bereits von Anfang an durch Zwischenrufe etc. zu stören versuchten.

Abschließend sei noch ein Bericht über eine Versammlung am 22.6.1962 zitiert, der sich zur Qualität der Vorträge von Frau Dr. Herx äußert:
„Das Referat von Frau Dr. Herx-Vark wurde äußerst schlecht vorgetragen. Die Referentin erwies sich als völlig ungeeignet, den Veranstaltungsteilnehmern in der Form und auch inhaltlich die Materie zugänglich zu machen. Hinzu kam, dass Frau Dr. Herx-Vark von verschiedenen Teilnehmern durch Zwischenrufe völlig aus dem Konzept gebracht und nervös wurde. Sie wußte nur noch einen Ausweg und machte von ihrem Hausrecht Gebrauch, indem sie die Zwischenrufer aus dem Saale wies. Auf Grund dessen verließen 24 Personen spontan den Versammlungsraum. Nach diesem Zwischenfall waren die noch verbliebenen 17 DFU-Anhänger unter sich. Der Vortrag wurde stümperhaft fortgesetzt und war gegen 22.00 Uhr beendet.“

Nach diesem Bericht taucht Frau Dr. Herx namentlich in der eingesehenen Akte nicht mehr auf. Insgesamt werden die Berichte immer weniger, die Aktivitäten der DFU in Münster wohl auch. Beherrschendes Thema ist jetzt der Widerstand gegen die Notstandsgesetze. Letzte Berichte und Notizen stammen aus dem Jahr 1967.


Über den Autor

Dietrich Scholle ist gebürtiger Münsteraner, aufgewachsen im Geistviertel, besuchte das Schiller-Gymnasium, studierte in Münster und Wien Geschichte und Germanistik, war von 1976 bis 1983 Lehrer an einem Gymnasium in Lünen, dort Schulleiter der 1983 gegründeten Geschwister-Scholl-Gesamtschule bis 2003, anschließend Dezernent für Gesamtschulen bei der Bezirksregierung in Münster bis 2013, lebt seit 2011 wieder in Münster.

Archivalien und Quellen

Eingesehene Akten im Stadtarchiv Münster
Bericht über die Tätigkeit des Rates und der Verwaltung der Stadt Münster 1945-1948 (Druckschriften Nr. 1)
Provinzialhauptstadt Münster/Westf. Verwaltungsbericht 1945-1954 (Druckschriften Nr. 265)
Verwaltungsarchiv Amt 10 Hauptamt Nr. 114; darin: Akte betr. Wiedergutmachungsangelegenheiten, ehem. KZ-Häftlinge, Betreuung pol. Häftlinge, begonnen: 1.6.45, Fach 13 Nr. 606; zitiert als Stadtarchiv, Wiedergutmachungsangelegenheiten.

Eingesehene Akten im Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen in Münster
Regierungspräsident Dezernat für Wiedergutmachung Nr. 4489 (August Dieckmann); zitiert als RP Nr. 4489. – (Unter dieser Nummer wurden mehrere früher eigenständige Akten zusammengeführt, eine nachträglich eingefügte Seitenzählung geht nur vom Beginn der Akte bis S. 132.)
NS-Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR Nr. 128; zitiert als Stasi Nr. 128.
K 700/Polizeipräsidien Nr. 4305; zitiert als PP Nr. 4305.

Sonstige Quellen
Stadt Münster: Die Wahlen in Münster nach dem Kriege. Münster o.J. Hektografie. 72 S. (Gemeindewahl 1946 bis Landtagswahl 1954)

Stadt Münster: Wahlen 1946 – 1958. Münster o.J. Offsetdruck. 110 S. (Ernannter Beirat 1945 bis Landtagswahl 1958)

Stadt Münster: Ein Jahrzehnt Wiederaufbau. Münster 1955.  Offsetdruck. 90 S.

Stadtarchiv Münster: Demokratischer Neubeginn vor 40 Jahren. Erste Kommunalwahl nach dem Kriege am 13. Oktober 1946. Dokumentation. Münster 1987.

Einwohnerbücher der Stadt Münster Westf. (Digitale Sammlungen der ULB Münster: https://www.ulb.uni-muenster.de/sammlungen/ )

Literatur
Bajohr, Stefan u. Rödiger-Bajohr, Kathrin: Die Diskriminierung der Juristin in Deutschland bis 1945. Kritische Justiz 1980, Jg. 13, Heft 1, S. 39-50.

Breßer, Peter: Zum Wiederaufbau der Arbeiterparteien und Gewerkschaften in Münster. In: Thien, H.G., Wienold, H., Preuß, S. (Hrsg.): Überwältigte Vergangenheit – Erinnerungsscherben. Faschismus und Nachkriegszeit in Münster i.W. Münster: Westfälisches Dampfboot 1984. S. 120 – 140.

Erdmann, Philipp: Entnazifizierung in Münster. Eine Stadt verhandelt ihre Vergangenheit 1945 – 1952 (Kleine Schriften aus dem Stadtarchiv Münster Band 14). Münster: Aschendorff 2018.

Erdmann, Philipp: Kommunales Krisenhandeln im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit. Die Stadtverwaltung Münster zwischen Nationalsozialismus und Demokratisierung (Villa ten Hompel Schriften 14). Berlin: Metropol 2019.

Hartmann, Annika: Verwaltung vor Ort zwischen Konflikt und Kooperation. Die Stadtverwaltung Münster und der Nationalsozialismus (Villa ten Hompel Schriften 13). Berlin: Metropol  2019.

Jakobi, Franz-Josef, u. Roswitha Link (Hg.): Geschichte im Gespräch: Kriegsende 1945 und Nachkriegszeit in Münster. Berichte von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bearbeitet von Sabine Heise unter Mitarbeit von Gerburg Harenbrock. Münster: agenda Verlag 1997.

Kenkmann, Alfons; Spieker, Christoph: Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung. Katalog zur gleichnamigen Dauerausstellung. (Villa ten Hompel Schriften 1). Essen: Klartext
2001.

Kenkmann, Alfons; Spieker, Christoph; Walter, Bernd (Hg.): Wiedergutmachung als Auftrag. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung. (Villa ten Hompel Schriften 7). Essen: Klartext 2007.

Korfmacher, Norbert: Mitgliederverzeichnis der Stadtverordnetenversammlung Münster 1919 bis 1933. Münster 2010. ( http://www.abgeordneten.info )

Korfmacher, Norbert: Die Mitglieder des Rates der Stadt Münster seit 1946. Münster 2021.
( http://www.abgeordneten.info )

Schwarze, Gisela: Eine Region im demokratischen Aufbau. Der Regierungsbezirk Münster 1945/46. Düsseldorf: Schwann 1984.

Volmer-Neumann, Julia: Bürokratische Bewältigung. Entschädigung für nationalsozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster (Villa ten Hompel Schriften 10). Essen: Klartext 2012.