im Juli 2024
es ist gar nicht lange her, als ich erstmals mit Claudia Giesen sprach. Ihr neues Projekt mit der Bigband der Universität soll aus der Taufe gehoben werden. Es geht um den Aufführungsort, und ob ich dabei helfen könne. Spontan fragte ich sie bei dieser Gelegenheit, ob sie aus ihrem Leben erzählen möchte.
So trafen wir uns. Aus den geplanten zwei Stunden wurden vier! Das Gespräch hätte durchaus noch länger dauern können, wäre die Zeit nicht so weit fortgeschritten.
Mit großer Begeisterung berichtete sie von den immer wieder neuen, weichenstellenden Stationen ihres Lebens. Sich immer wieder neu erfinden und sich weiter entwickeln in einem steten, lebenslangen Prozess, so sieht sie ihre künstlerische Aufgabe.
Mit Leib und Seele, mit Leidenschaft übt sie ihren Beruf - ihre Berufung - aus.
Claudia wird 1973 in Rheine geboren. Ihre Familie stammt väterlicherseits aus Lauban (Sclesien), mütterlicherseits aus Süddeutschland. Die Kriegswirren führen sie ins münsterländische Rheine.
Der Vater, Dieter Hübl, leitet bei der Handwerkskammer Münster die Abteilung Bildung und Recht und fährt jeden Tag nach Münster. Man fühlt sich in Rheine heimisch, und so wird ein Ortswechsel nie in Betracht gezogen.
Das Elternhaus und auch die weitere Verwandtschaft sind musikalisch geprägt. Ein Onkel ist Geiger im Sinfonieorchester Stuttgart, der andere Onkel und seine Frau sind Opernsänger.
In der Familie wird viel gesungen und musiziert. Der Großvater beherrscht mehrere Instrumente und dirigiert auch Orchester. Seine gleichermaßen musikalische Tochter Doris weckt die Begabung bei ihrer kleinen Tochter Claudia. Sie erhält eine musikalische Früherziehung mit anschließender Grundausbildung.
Als Claudia fünf Jahre alt ist, wird sie gefragt ob sie Blockflöte oder Klavier lernen möchte. Welch eine Frage, das ist für Claudia glasklar, und sie wählt ohne Zögern das Klavier, diesen für sie so großen, schwarzen Kasten im Hause der Familie. Eine weitreichende, lebensbestimmende Entscheidung, die heute noch fest in Claudias Erinnerung verankert ist. Ihr zweites Instrument wird die Geige. Auch ihre Schwester spielt dieses Instrument. Sie wird allerdings nicht wie Claudia den Weg zur Musik einschlagen.
Neben dem schulischen Lernen füllt sie ihre Zeit mit der musikalischen Weiterbildung aus. So bleibt weniger Raum für das Schließen von Freundschaften, Hobbys und die üblichen Teenager-Vergnügungen.
Claudia ist in ihrer Schulzeit immer die Klassenbeste, was sie eigentlich nicht so recht sein will. Im Klassenverband ist sie eher eine Außenstehende. So wählt sie den Leistungskurs Physik, um ihren Mitschülerinnen und Mitschülern zu zeigen, dass sie durchaus Schwächen hat. Dennoch ist sie beste Abiturientin ihres Jahrgangs.
Über Jahre unterstützt die Stadt Rheine ihre musikalische Ausbildung durch Stipendien und mit der Finanzierung des Klavierunterrichtes. Sie nimmt bereits in früher Jugend an Klavierwettbewerben teil, wie zum Beispiel an dem traditionellen Wettbewerb ,Jugend musiziert'. Hier erreicht sie die Bundesebene und wird mit einem Preis ausgezeichnet.
Aber sie spürt immer mehr, wie sehr ihrer Ausbildung in Rheine Grenzen gesetzt sind, und dass es an der Zeit ist, neue Impulse zu erhalten.
Als die zehnjährige Claudia erstmals die Musikschule in Münster für den Wettbewerb ,Jugend musiziert' besucht, ist sie beeindruckt von der Professionalität und vom Niveau der Dozenten. Es ist eine andere Liga. Allein das Gebäude an der Himmelreichallee imponiert ihr. So etwas kennt sie nicht aus Rheine, wo alles kleinspuriger abläuft. In Münster findet sie die ersehnten Perspektiven für ihre künstlerische Entfaltung.
Aus Claudias Erinnerungen: Eine wichtige LebensphaseMit 16 Jahren war ich in einer Phase der Orientierungslosigkeit. Ich fühlte mich wie ein gefangener Tiger, der unter dem unerträglichen Drang nach Freiheit leidet. Es war eine gewisse Form der Apathie, als würden die Zahnräder nicht ineinander greifen, wie sie es sollten.
Meine Mutter erkannte die Lage: das Kind braucht neue Herausforderungen als die, die in Rheine geboten werden. Sie setzte sich mit Professor Gregor Weichert von der Musikhochschule Münster in Verbindung. Er wurde mein neuer Klavierlehrer. Jede Klavierstunde bei ihm habe ich genossen. |
Die Schuljahre sind vorbei. Nun kann Claudia sich mit ihrer ganzer Kraft dem Musikstudium widmen. Das Lernen wird sie nicht für drei oder fünf Jahre begleiten, sondern wird Teil ihres ganzen Lebens werden.
Meisterkurse
Claudia besucht Meisterkurse in Wien, Hannover, Münster und Essen. Sie studiert an den Musikhochschulen Detmold und Würzburg und bekommt dort wesentliche künstlerische Impulse. Nach drei abgeschlossenen Studiengängen möchte sie als Dozentin nicht arbeiten. Dies wäre ein Stillstand ihrer künstlerischen Entwicklung. - Ihre Lehrer sind in dieser Zeit: Leonid Brumberg, Volker Banfield, Elena Lapitskaja, Sten Nökleberg, Michael Keller, Arnulf von Arnim, Gregor Weichert, Karl Betz, Bernd Glemser und Andràs Hamary (Leiter des Ensembles für Neue Musik der Musikhochschule Würzburg,).
Erfolg und Meisterklassendiplom
Im Februar 2000 erreicht Claudia einen bedeutenden Wettbewerbserfolg, als sie zur großen Freude das hochdotierte Stipendium der Vogel-Stiftung aus Würzburg gewinnt. Im März 2001 hat sie das Meisterklassendiplom in der Tasche.
Aus Claudias Erinnerungen: Wie ich Tobias Giesen kennenlernteTobias Giesen stammt wie auch ich aus Rheine. Wir kannten uns zunächst nur aus der Zeitung, in der wir unsere gegenseitigen Rezensionen lasen. Anfangs mochte ich ihn gar nicht. Ein Sonderling sei er, dachte ich. Sein angefangenes Studium der Mathematik und Informatik hatte er aufgegeben, um in Würzburg Musik zu studieren. Als er seine Eltern in Rheine besuchte, kam er zu einem meiner Klavierabenden im Rheiner Falkenhof. Anschließend diskutierten wir lange, und er stellte mir seine eigenen Kompositionen vor.
Das Eis war gebrochen, und von nun an pendelte ich zwischen Rheine und Würzburg per ICE hin und her. Würzburg ist eine phantastische Stadt mit einer ausgezeichneten Musikhochschule. Allein zehn Klavierlehrer geben dort Unterricht. Was lag näher, als auch dort zu studieren.
Tobias und ich wurden ein Paar. Als dann unsere beiden Jungen zur Welt kamen, entschied ich mich, meinen Mädchennamen Hübl abzulegen und fortan als Claudia Giesen aufzutreten. Mit einem gemeinsamen Namen ist es doch für die Familie einfacher... |
Tourneen und Aufführungen
Claudia Giesen gestaltet Klavierabende, orchesterbegleitete Solokonzerte, aber auch erweiterte Konzertformen, wie zum Beispiel durch Kombination von Musik, Tonband und Sprache. Ihre Konzerte führen sie in viele Länder Europas und nach Israel.
Sie widmet sich besonders den Komponisten Franz Schubert und Villa-Lobos. Im Bereich der Neuen Musik hat sie sowohl als Solistin als auch im Ensemble zahlreiche Uraufführungen ermöglicht und sie für den Bayerischen und Hessischen Rundfunk eingespielt.
Musikalisches Neuland: Improvisation und Jazz
Nach ihrer Studienzeit erweitert Claudia nicht nur ihr klassisches Repertoire. Sie findet Zugang zur improvisierten Musik, vor allem zum Jazz, und wirkt bei Musical-Aufführungen mit. Ihr Weg führt sie in neue musikalische Welten.
Titel ,Escrima 1'
Claudia: Über die ImprovisationIch muss immer meinem Stern folgen. Dabei ist für mich die stete Weiterentwicklung unabdingbar. So ist die Improvisation Teil meines Spiels. Denn ich möchte nicht ausschließlich das Medium derer sein, die etwas geschaffen haben. Ich möchte selbst kreativ wirken, um nicht in der Eingleisigkeit gefangen zu sein. So habe ich zunächst mit etwas Kreativem, dem Malen, begonnen. Mit Erfolg. Später wurde die Improvisation auch Teil meiner Musik.
Natürlich geht es auch ohne Improvisitation. Es gibt unendlich viele Musiker, die ein sehr erfülltes Künsterleben haben, indem sie die Kompositionen anderer spielen. |
Titel ,Escrima 2'
Zu den Bildern: Escrima ist ein Bereich der Chinesischen Kampfkunst Wing Tsun,
die Claudia sehr schätzt.
Spiegelt das Klavierspiel und insbesondere die Improvisitation Deine Gefühlswelt wider?
Es ist so, dass ich Musik als Sprache erlebe, mit der ich mich ausdrücken möchte. Und ich
versuche natürlich, mich so zu äußern, dass es eher einem Gedicht oder wohlformulierter Prosa entspricht, als einem Gespräch, in dem es um Belangloses geht oder Alltägliches. Also geht es auch nicht um alltägliche Gefühle, sondern ich habe als Profimusiker eine Ebene, in die ich eintauche, eine musikalische Gefühlswelt, die ich aktiviere. Da ist Musik überhöhte Sprache und Ausdruck einer eigenen Gefühlswelt.
Gibt es Stücke, an die Du Dich nicht heranwagen würdest oder sogar ablehnst?
Also ich bin nicht so der 'La Campanella'-Typ. Ich habe genug Stärken, die ich mit anderen Stücken zeigen kann. Grundsätzlich muss in einem Stück, das ich spiele, das Verhältnis von Klangergebnis und Übeaufwand in Stunden gut sein.
Was ist Deine Lieblingsmusik bzw. Dein Lieblingskomponist?
Das, was ich gerade spiele.
Welche Musik lehnst Du ab?
Mit Heavy Metal kann ich nicht viel anfangen. Ich weiß, da gibt es hochkarätige Musiker, die Musik erreicht mich aber nicht so.
Welche oder welcher Lehrende hat Dich am meisten inspiriert?
Da müsste ich mich zwischen Andras Hamary, Karl Betz und Gregor Weichert entscheiden. Florian Weber ist aktuell auch sehr wichtig.
Legst Du bei Deinen Kindern einen musikalischen Grundstein?
Ich habe sie die ersten 2 Lebensjahre fast ununterbrochen getragen und ihnen den ganzen Tag vorgesungen, also würde ich sagen, ja.
Hast Du Lampenfieber?
Natürlich. Das ist super und treibt mich zu Höchstleistungen.
Hattest Du Phasen, die Musik aufzugeben?
Nein, noch nie.
Denkst Du daran, während eines Konzerts versagen zu können?
Während eines Konzerts habe ich buchstäblich alle Hände voll zu tun, man ist immer bei dem, was gerade zu tun ist und was als Nächstes. Das ist genug.
Stört Dich Unruhe im Publikum (Nießen, Telefon etc.)?
Ja, schon, wenn es zu vordergründig wird. Einmal kam ein Kritiker mitten in einem Klavierabend herein, ist dann bis zu mir nach vorne gelaufen und hat Fotos gemacht und ist dann wieder verschwunden. Das war schon sehr strange und auch störend.
Was ist Dir zuwider?
Wille zur Macht, Revisionssucht
Hast Du eine Lieblingsspeise?
Ich mag die italienische Küche und da auch besonders Gnocchi
Hast Du Angst vor Arthrose in den Fingern?
Nein, habe ich nicht. Ich bin da erblich nicht vorbelastet und nutze meine Hände ja nicht ab durch Klavierspielen, ganz im Gegenteil, das ist eine optimale gesunde Beanspruchung.
Was ist Dein größter Wunsch?
Das Plakat von 'Searching Blue' in Münster hängen zu sehen.
Wie wär's mit einer kleinen Anekdote zum Schluss?
Ich hatte die Ehre, in Bayreuth bei der Firma Steingräber auf dem historischen Liszt-Flügel zu spielen. Beim Einspielen habe ich gemerkt, das dieses Instrument weniger Tasten oben und unten
hatte. Ich musste das halbe Programm umstellen und ein großes Stück weglassen, wegen zu wenig Tasten.
Nach der Würzburger Zeit finden viele Wohnortwechsel kreuz und quer durch Deutschland statt. Rückblickend sagt sie lachend, dass diese Jahre etwas Nomadenhaftes an sich hatten. Der Schlusspunkt ihrer Reise - ob es wohl die letzte ist? - führt das Künstlerpaar Claudia und Tobias Giesen wieder ins Münsterland, und zwar direkt nach Münster. Hier kommen die beiden Söhne zur Welt.
Im Laufe der Jahrzehnte hat Claudia unzählige Menschen der Musikszene kennengelernt, die ihre Lehrer waren, die sie inspirierten und sie in ihrer künstlerischen Entwicklung unterstützten. Gleichermaßen hat sich für Claudia hierdurch ein umfangreiches Netzwerk Kunstschaffender gebildet, aus dem sie schöpfen kann.
Ich habe Claudia Giesen als temperamentvolle, humorige und von ihrem Schaffen begeisterte Frau kennengelernt. Sie ist eine Bereicherung unseres Kulturlebens.
Quellen
Fotos, soweit nicht anders angegeben: Claudia Giesen
Text: Henning Stoffers
Web-Seite Claudia Giesen: https://claudiagiesen.de/